Kuchen war unser Gemüse! Mein ganz persönlicher Nachruf auf meinen Bruder Hermann Cölfen

Deep peace of the running wave to you.
Deep peace of the flowing air to you.
Deep peace of the quiet earth to you.
Deep peace of the shining stars to you.
Deep peace of the gentle night to you.
Moon and stars pour their light on you.
Deep peace after all the pain to you.

(Ein etwas abgeändertes irisches Gebet und meine letzten Worte am Grab meines Bruders.)

Ich wollte diesen Text schon sehr lange schreiben und habe es immer wieder versucht, doch es fällt mir so unendlich schwer. Es mag euch, lieben Leserinnen und Lesern, ein wenig eigenartig (mein Bruder Hermann hätte „schräg“ gesagt) erscheinen, auf einem Foodblog einen Nachruf zu veröffentlichen, aber dieser Artikel gehört genau hierhin. Ich kann hier im Blog nämlich nicht einfach weiter so „zur Tagesordnung übergehen“ und über andere Themen schreiben, wenn mein Bruder eigentlich den nächsten Artikel hätte schreiben sollen. Er wollte eine Fortsetzung unseres ersten gemeinsamen Weintest-Artikels schreiben und hatte sich schon sehr darauf gefreut. Kurz vor Weihnachten kam er hier bei mir vorbei und hat sich freudestrahlend den Wein abgeholt, mit dem er sich zwischen den Feiertagen ausgiebig beschäftigen wollte.

Hermann ist tot

Doch jetzt ist mein geliebter Bruder tot. Ich kann es immer noch nicht begreifen. Niemand kann es begreifen. Am 2. März ist mein Bruder Hermann Cölfen im Alter von 57 Jahren gestorben. Die Todesursache ist ungeklärt. Er starb nicht plötzlich und gänzlich unerwartet, sondern nach über 8 Wochen dramatischer und grauenvoller Krankheiten und Leidenszeit auf 2 Intensivstationen mit einem kurzen Aufenthalt auf der neurologischen Frührehabilitation. Trotz all der Krankheiten hatten wir bis zum Schluss Hoffnung, dass er nach langer Reha irgendwann wieder genesen würde. Dass wir wieder mit ihm sprechen und ihm Mut machen könnten.

Ein kleiner Schlaganfall am Tag vor Sylvester war der Anfang einer Reihe von Verschlimmerungen, Komplikationen, Wechselwirkungen von Medikamenten, zahllosen Operationen, Hoffnungen, mitunter ratlosen Ärzten und verzweifeltem Klinikpersonal. Ich möchte Hermanns Leidensgeschichte nicht im Detail beschreiben, da es ihm unangenehm wäre. Es war - es fühlt sich für mich immer noch falsch und surreal an, von Hermann in der Vergangenheit zu schreiben - einfach eine Tortur für Hermann und uns alle, die ihn lieben. Und rückblickend hatte er aufgrund einer sehr seltenen Hintergrunderkrankung vermutlich gar keine Chance, gesund zu werden.

Ich vermisse meinen Bruder unglaublich. Seit dem Tag vor Sylvester wache ich jeden Morgen mit einem furchtbaren Schreck auf, weil die Welt jetzt so anders ist und irgendetwas gar nicht stimmt. Ich denke immer noch, Hermann könnte jetzt mal so langsam zurückkommen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich einen geliebten Menschen verliere: Mein Vater starb schon vor 23 Jahren an Lungenkrebs, und wir haben ihn bis zum Schluss zu Hause gepflegt. Meine Mutter ist seit ziemlich genau 4 Jahren tot und starb nach einer langen Zeit der Demenz. Ich habe beide Eltern sehr geliebt und war und bin sehr traurig über ihren Tod. Ich weiß also, dass Trauern schmerzhaft ist, dass das Gerede über die Phasen der Trauer Blödsinn ist und dass es erst nach sehr langer Zeit etwas besser wird. Aber Hermanns Tod ist ganz anders für mich, weil er für mich fast wie ein Zwillingsbruder war.

Hermann in meinem Leben

In Kindheit und Jugend hatten wir nicht viel miteinander zu tun, denn Hermann war neun Jahre älter als ich. Und was macht ein Neunjähriger schon mit einer neugeborenen Schwester? Einer Schwester, wegen der man das eigene Zimmer verliert und wieder mit dem Bruder zusammenziehen muss. Die ständig das eigene Spielen unterbricht und der man dauernd den Schnuller wieder in den Mund stopfen soll. Meine Mutter hat mir erzählt, dass Hermann sogar so wütend über mich war, dass er den Kinderwagen nehmen und mich im nächsten Baggerloch versenken wollte. Ich hieß nur „die Kröte“ und war ihm ziemlich lästig.

Wir kamen uns eigentlich erst näher, als ich nach der Scheidung mit meiner Tochter wieder im Elternhaus einzog, wo Hermann auch teilweise wohnte oder sich einen Großteil des Tages aufhielt, weil er im elterlichen Büro arbeitete. Ich war 20, junge Mutter ohne Abitur und völlig orientierungslos. Ich habe mich dann ein wenig von Hermann beraten lassen und wie er und auch mein 14 Jahre älterer Bruder Gerd das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg am Duisburger Abendgymnasium nachgeholt. "Schon wieder jemand von der Familie Cölfen“, sagten alle Lehrer dort und sahen mich erwartungsvoll an. Schließlich hatten meine beiden Brüder dort ein sehr gutes Abi gemacht und - jeder auf seine Weise - einen besonderen Eindruck hinterlassen. Ich hatte mit 18 Jahren als Punk mit Ratte auf der Schulter und frisch verheiratet in der 12. Klasse selbstbewusst die Schule verlassen und kam mir dabei unheimlich gut vor. Meine Noten waren unterirdisch, das Abi wollte ich extern machen. Natürlich hat dieser idiotische Plan nicht funktioniert. Ich war sofort schwanger und führte eine kurze, grauenhafte Ehe. Deshalb hatte ich von mir rein schulisch nicht viel erwartet, aber erstaunlicherweise hatte ich dann am Abendgymnasium wie meine Brüder auch sehr gute Noten.

 
Der junge Hermann

Der junge Hermann

Hermann und ich in den 80er-Jahren

 

Außerdem hatte ich in dieser Zeit sogar ein ganz klein wenig Geld, wovon ich mir einen uralten VW Käfer leisten konnte. Das hatte ich Hermann zu verdanken. Um das zu erklären, muss ich ein wenig ausholen und erzählen, dass mein Vater zunächst Kfz-Meister war und dann sehr viele Jahre einen Milchsammelwagen gefahren hat. Hermann hat in dieser Zeit noch den Führerschein Klasse zwei gemacht, um meinen Vater zu unterstützen und sich etwas Geld dazuzuverdienen. Als Hermann dann mit seinem Studium anfing, konnte und wollte er nicht mehr so oft fahren, wie mein Vater es sich gewünscht hätte. Aber hier und da fuhr er dann manchmal einige Tage den Sammelwagen und so kam es auch, dass meine Eltern sich manchmal ein paar Tage Auszeit gönnen konnten. Wir beide haben dann zu Hause die Stellung gehalten.
Als sich dann immer mehr Molkereien zusammenschlossen und kleine Molkereien aufgelöst wurden, wurden die Sammeltouren immer länger und ineffizienter. Das Sammelwagenfahren hat sich nicht mehr gelohnt, und deshalb fuhr mein Vater dann einen Verkaufswagen, in dem er den Bauern Produkte für die Vieh-Pflege (so skurril klingende Dinge wie Eutertücher und Zitzengummis), Tiefkühlkost, Milchprodukte, Schnaps, Käse und Wurstwaren und allerlei andere Dinge verkaufte. Hermann hat dann den kaufmännischen Teil übernommen und ausgerechnet, wie viel wir sparen können, wenn wir die ganzen Käse selber schneiden statt sie fertig geschnitten zu kaufen. Von da an habe ich jeden Tag ein paar Stunden ganze Räder Käse gewuchtet, geschnitten, ausgewogen und verpackt. Und hatte damit den perfekten Job neben Abendgymnasium und später Studium, weil Hermann so gut Geldquellen ausmachen und verwalten konnte. Eine Eigenschaft, die ihm später als Kustos des Fachbereichs Geisteswissenschaften an der Uni Duisburg-Essen sehr nützlich sein sollte.

Milchsammelwagen

mum0102.jpg

verkaufswagen

Als ich dann nach dem Abitur überlegt habe, was ich studieren soll, habe ich mich wieder mit Hermann unterhalten. Eigentlich meinte er, ich solle Anwältin werden. Wir hatten endlose Folgen der Serie „Liebling Kreuzberg“ zusammen angesehen, und in einer Folge hatte Liebling gesagt, Anwälte müssten etwas von einem Terrier haben und sich fest in eine Sache verbeißen. Diese Eigenschaft sah Hermann auch in mir, und so dachte ich zumindest darüber nach. Nachdem ich mich dann etwas intensiver mit dem Jura-Studium beschäftigt und auch einige Vorlesungen besucht habe, wusste ich aber, dass das nichts für mich sein konnte. Ich habe dann ein Semester in Bochum alle meine Traumfächer studiert und schnell festgestellt, dass das auch nichts für mich war.
Also wieder Beratung mit Hermann: „Studier’ doch wie ich Germanistik. Und dann noch was mit Computern und Sprache“. Ich habe mich dann für Germanistik, Anglistik und Computerlinguistik an der Uni Duisburg entschieden. Das hat sich dann tatsächlich als richtig erwiesen. Vor allem, weil die Duisburger Uni so nahegelegen war und ich dann meinen Alltag mit Kind besser organisieren konnte. Hermann hat mir einige seiner Lehrbücher gegeben, und wir kamen uns wirklich nah. Wenn man das gleiche Fach studiert, ergeben sich einfach viele Themen. Dazu kommt, dass in unserer Familie sowieso schon immer sehr viel gesprochen und diskutiert wurde.
Irgendwann haben wir dann sogar im Fachbereich zusammengearbeitet. Und zusammen mit Ulrich Schmitz kam dabei sogar ein Buch heraus. Wir haben ein Projekt zusammen geplant, sind oft zusammen zur Uni gefahren, haben zusammen Artikel veröffentlicht und Stunden in der Cafeteria und umliegenden Restaurants verbracht.

Dann kamen ein paar traurige Jahre, in denen wir uns nicht mehr verstanden haben und sogar keinen Kontakt mehr hatten. Es gab Missverständnisse bei der Arbeit, über die wir aber nie richtig gesprochen haben. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass unsere Mutter nach dem Tod unseres Vaters durch Lügen und erdachte Geschichten versucht hat, uns beide auseinander zu bringen.  Vielleicht zeigten sich ja dort schon erste Anzeichen von Demenz? Damit hatte sie leider auch Erfolg, denn wer würde der eigenen Mutter nicht glauben? Es folgten Jahre ohne Kontakt, in denen ich meinen Bruder sehr vermisst habe. Als ich dann nach einem Jahr meine Mutter zum Muttertag besuchte (auch meine Mutter und ich hatten keinen Kontakt mehr), habe ich mit Entsetzen festgestellt, dass sie dement geworden war. Ich kontaktierte Hermann, und wir trafen uns nach langer Zeit zum ersten Mal wieder. Natürlich in einem Café zu einem Stück Kuchen, wo sonst? Wir waren beide sehr aufgeregt, aber nach einer etwas angespannten halben Stunde haben wir uns richtig ausgesprochen, und alles war wieder fast wie früher. Wir hatten nun eine harte Zeit vor uns, in der wir zusammen viele Entscheidungen treffen und uns um unsere Mutter kümmern mussten. Und auch wenn wir in dieser Zeit in vielen Punkten nicht immer einer Meinung waren (wer ist das auch schon?), haben wir alles gut zusammen hinbekommen und konnten unsere jeweiligen Fähigkeiten gut einsetzen. Unsere Geschwisterbeziehung wurde von da an immer besser, und wir hatten fast jeden Tag Kontakt (Telefon, SMS, WhatsApp, Facetime etc.).
Durch reinen Zufall waren sowohl Hermann und seine Frau Sabine als auch Ralf und ich am Todestag unserer Mutter gleichzeitig im Altenheim zu Besuch. Das war vorher noch nie vorgekommen, und wir waren so alle vier bei meiner Mutter, als sie starb.

Kuchen war unser Gemüse

Festliches Weihnachtsgelage mit süßen Tellern

Food war schon immer eines unserer Themen. Obwohl wir uns dessen früher natürlich nicht bewusst waren. Alle langen Gespräche und Diskussionen in der Familie wurden immer von Essen begleitet. Ein Brunch bei der Familie Cölfen konnte schon mal von 10:00 bis 18:00 Uhr dauern.
Dabei redeten, diskutierten, aßen und tranken nicht nur wir Familienmitglieder, sondern es setzte sich dazu, wer auch immer gerade zu Besuch war.
Bei unserer Mutter Marianne Cölfen gab es immer reichlich zu essen und zu trinken. Hausfrau, Ehefrau und Familienmensch durch und durch gefiel ihr nichts besser als ein gedeckter Tisch mit möglichst vielen (vertrauten) Menschen.

Das Essen hatte viele Funktionen in unserer Familie. Zum einen natürlich die oben erwähnte Geselligkeit. Zum anderen aber haben wir gelernt, dass Essen trösten kann. Bin ich hingefallen oder habe mich verletzt, wurde natürlich zuerst die Wunde versorgt, aber dann legte meine Mutter immer ein Stück kühle Schokolade darauf. Mit Schokolade, Kuchen, Plätzchen und Süßigkeiten (immer von bester Qualität) war man sowieso gegen alle schlechten Stimmungen, finanziellen Krisen, Sorgen und Ungerechtigkeiten gewappnet.

Und Kuchen war einfach ein Muss. Früher hat meine Mutter ihn auch immer selbst gebacken. Also zumindest die Tortenböden. Bei großen Festen gab es immer mehrere Obstböden und eine Ananas-Sahne-Torte, für die die Biskuit-Böden beim Bäcker des Vertrauens bestellt wurden. Dann noch Dosen-Ananas mit Mondamin eingedickt, Sahne mit Unmengen von Sahnesteif aufgeschlagen und fertig war die Sahnetorte der 70er und 80er Jahre, von der mein Bruder Gerd heute noch schwärmt.

Auf dem Bild sieht man mich im Rahmen einer frühen Konditionierung auf Sahnetorte. Diesmal vom Konditor.

 
kuchenberge.jpg
 

Aber es reichte nicht, nur an Festtagen Kuchen zu essen. Meine Mutter brauchte täglich ihre „Dosis“ Kuchen und war fest davon überzeugt, dass auch wir alle jeden Tag mindestens ein oder zwei Stücke Kuchen essen mussten. Da meine Mutter als Hausfrau und Geschäftsfrau mit Lagerverwaltung, Bestellungen etc. aber den ganzen Tag arbeiten musste, blieb keine Zeit zum Kuchen backen. Außerdem schätzte sie als Nachkriegskind auch durchaus die Annehmlichkeiten von fertigem Essen. Der Kuchen wurde täglich vom Bäcker um die Ecke gekauft, und es kam auch reichlich Päckchen zum Einsatz. Meine Mutter hatte einen unendlichen Vorrat an Tütensuppen, Tütensaucen und Suppen in Dosen.

Bis auf die Unmengen von Süßigkeiten haben wir sicherlich nicht ungesund gelebt. Es gab eigentlich jeden Tag Gemüse, und es wurde abwechslungsreich gekocht. Aber für meinen Bruder und mich war völlig klar, dass ein Leben ohne Süßigkeiten zwar möglich, aber weitestgehend spaßfrei sein musste. So gab es immer einen Vorrat an Süßigkeiten, den meine Mutter im Wohnzimmer aufbewahrte. Der damalige Wohnzimmerschrank meiner Eltern steht heute bei meinen Schwiegereltern. Und wenn ich deren Wohnzimmer betrete, möchte ich noch heute automatisch die rechte Tür des Schranks aufmachen und mir eine Tafel Lindor, ein paar Mon Cherie oder Novesia Goldnuss nehmen: Pawlow läßt grüßen.

Hermann und ich schätzten also gutes und besonders süßes Essen, konnten zu dieser Zeit selber aber überhaupt nicht kochen. Hermann hatte als Mann in der Küche natürlich nichts zu suchen, denn zu meinem Leidwesen war das Rollenbild meiner Eltern sehr konservativ. Ich musste spülen, bei der Hausarbeit mithelfen, Fenster putzen, Staub wischen etc. Und natürlich die ganzen Feiern mit vorbereiten. Die Männer dagegen wurden nur bedient. Bei meiner Mutter ging das so weit, dass mein Vater nicht einmal in der Lage war, sich selber Kaffee zuzubereiten oder ein Ei zu kochen.

Aber wenn ihr jetzt denkt, dass ich von meiner Mutter kochen gelernt habe, liegt ihr falsch. Das Kochen hat sie immer selbst übernommen. Sie hat höchstens mit mir zusammen gebacken oder auch mal Kartoffelsalat etc. gemacht, aber das Kochen war immer ihre Domäne.

Während der seltenen Urlaubszeiten meiner Eltern fuhr Hermann wie gesagt den Milchsammelwagen. Ich musste den Haushalt machen und dann natürlich auch kochen, obwohl ich es ja nie gelernt hatte. Als er dann eines Tages müde von seiner Lkw-Tour nach Hause kam, habe ich ihm ein Cordon bleu mit Kartoffeln und Erbsen serviert. Die Erbsen waren in Ordnung, die Kartoffeln konnte man halbwegs essen. Das Fleisch sah von außen auch recht ansehnlich aus, aber von innen war es leider komplett roh und der Käse eiskalt. Dieses Essen blieb nicht ohne lebenslange Folgen für mich; bis vor Kurzem hat Hermann mich als Foodfotografin mit meinem „Cordon roh“ geärgert.

Feste und Feiertage waren bei uns zu Hause rein kulinarisch besonders wichtig. Da meine Mutter nicht nur extrem gut und reichlich gekocht hat, sondern das Haus auch blitzeblank sein musste, waren die Tage vor Weihnachten immer ziemlich stressig für mich. Mein Vater brachte meist 2 oder 3 Hasen von Bauern mit, die im Keller hingen und vor Heiligabend von meinem Vater oder einem Freund der Familie abgezogen wurden. Die über Nacht in Buttermilch schwimmenden blutigen Hasenteile gehörten für uns ebenso zum Weihnachtsfest wie das Spritzgebäck oder die enorm gefüllten bunten Teller, die erst am Heiligabend zum Vorschein kamen. Jedes Familienmitglied bekam 2 Tafeln der jeweiligen Lieblingsschokolade, selbst gebackene Butterplätzchen und Spritzgebäck und Unmengen der in der Konditorei Dobbelstein in Duisburg erstandenen Trüffelpralinen.

Und da meine Mutter Hermann besonders liebte und die Liebe - wie ihr euch mittlerweile denken könnt - in ihrer Welt zumindest zu einem Großteil durch den Magen ging, bekam Hermann noch immer diverse Extras. Meistens natürlich etwas aus Marzipan, das er sein Leben lang liebte.
So gehörte das Thema Food immer zu uns, und sowohl Hermann als auch ich haben immer gern gekocht. Und wenn ich Hermann zu Weihnachten Bœuf Bourguignon nach Julia Child servierte, war das zwar nicht unser Familien-Hasenbraten, aber fast schon so etwas wie unsere neue Weihnachtstradition.

Food und Fotos

Hermann hat früher sehr oft fotografiert; mich dagegen hat das Fotografieren überhaupt nicht interessiert. Dass ich heute Fotografin bin und auch noch unser Lieblingsthema Food fotografiere, hätten sicher weder Hermann noch ich gedacht. Hermann liebte meine Fotos. Bis auf die „Mädchenkram“-Bilder in hellen Pastelltönen, zu denen er manchmal sagte: „Als hätte sich ein Flamingo ausgekotzt“. Das war ein Zitat aus dem Bette Middler-Film „Beaches“ - auch einer unserer Insider.
Bei jedem Shooting habe ich mir auch vorgestellt, was Hermann zu den Bildern sagen würde. Und nach dem Shooting habe ich die Bilder zuerst ihm gezeigt. Er war dann voll des Lobes oder hat über den „Mädchenkram“ geschimpft. Immer hat er aber gefragt, ob man das Motiv essen kann und ob er es beim nächsten Besuch probieren darf.

Er hätte auch sehr gern Food fotografiert, aber dafür fehlte ihm einfach die Zeit und manchmal auch die Geduld. Ich habe dann aus der Ferne Tipps gegeben, und so ist zum Beispiel dieses Titelbild entstanden.

Als ich jetzt in der Wohnung von Hermann und Sabine etwas an Hermanns Computer gearbeitet habe, sah ich, dass Hermann eines meiner Food-Bilder als Schreibtischhintergrund auf seinem Computer eingerichtet hatte. Darüber habe ich mich sehr gefreut.

Eines von Hermanns Lieblings-Fotomotiven war sein gelobtes Land: Irland. Hermann und Sabine waren jedes Jahr ein paar Wochen in Irland im Urlaub, und dort hat er immer viel fotografiert.

Hermanns Fotografenprofil bei der Fotografencommunity 500px ist immer noch online.

Filme und Serien

Oh ja. Hermann und Filme. Wir haben so viele Filme immer und immer wieder miteinander angesehen, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Filme waren für uns weit mehr als Unterhaltung oder Zeitvertreib. Da waren zunächst die gemütlichen Schwarzweiß-Filme, die immer sonntags zu Kaffee, Kuchen und Sahne genossen wurden. Heinz Rühmann, Hans Moser, Theo Lingen, Heinz Erhardt und die unzähligen Heimatfilme auf der „Watchlist“ unserer Mutter gingen auch später noch immer, weil sie uns dieses gemütliche Sonntagsgefühl gaben. Alle Woody Allen-Filme waren sowieso Pflicht und auch zum 20ten Mal ein Genuss. Familienfilme, StarTrek, Liebesfilme, Dramen und viele Serien sind für mich bis heute untrennbar mit Hermann verbunden. In unseren Unterhaltungen kamen oft Filmzitate vor - wie ein Geheimcode, den nur wir verstehen konnten. Dann waren da die tiefen Filme, die unsere Seelen berührt haben und über die wir stundenlang sprechen konnten. „Un taxi mauve“ war einer dieser Filme.

Hermann und ich hatten zwei gemeinsame Film-Highlights. Das erste fand in unserer Lieblingskneipe, der Friemersheimer Dorfschenke statt. Das war damals in den 80er-Jahren das kleinste Programmkino Deutschlands und urgemütlich. An diesem Abend lief „Verliebt in Chopin“, und wir beide waren die einzigen Besucher. Wir nahmen uns Guinness mit ins Kino, Hermann rauchte Pfeife und ich Zigaretten (ja, damals durfte in Kneipen noch geraucht werden) und hatten den großartigsten Abend.

Das zweite Highlight war unser StarWars-Abend. Hermann und ich hatten im Keller unseres Elternhauses, der immer im Wechsel von einem von uns drei Kindern bewohnt wurde, einen StarWars-Abend nur für uns beide veranstaltet und all drei Filme hintereinander angesehen. Natürlich noch ohne Dolby Surround etc., dafür aber bei ziemlich maximaler Lautstärke. Der Abend war wunderbar, und als wir mit eckigen Augen und vom Lärm halb taub aus dem Keller kamen, war großes Polizei-Aufgebot auf der Straße. Das Nachbarhaus war wohl während unseres StarWars-Marathons aufgebrochen und ausgeraubt worden, und wir hatten nichts davon mitbekommen…

Unsere Serie, die wir uns ansahen, wenn wir uns entspannen wollten und mal von Allem genug hatten, war „Der Doktor und das liebe Vieh“. Der unaufgeregte Alltag der Tierärzte in Yorkshire mit all den kleinen Anekdötchen war unsere heile Welt. Und so haben wir auch versucht, Hermann im Krankenhaus die Titelmelodie vorzuspielen. Ich hoffe, die Musik hat ihn auch da erreichen und ihn etwas beruhigen können.

Wenn ein Hermann geht…

… dann fehlt er Vielen. Die Beerdigung war wunderschön, wenn man das von einer Beerdigung überhaupt sagen kann. Obwohl unsere Familie ja sehr klein geworden ist, kamen über 80 Menschen, um sich von Hermann zu verabschieden. Jung und alt, Freunde aus Vergangenheit und Gegenwart und Arbeitskolleginnen und Kollegen, die zum großen Teil Freunde geworden sind. Ich habe beim Blumenhändler meines Vertrauens einen wunderschönen Urnenkranz bestellt, der Herman sehr gefallen hätte. Er sah aus wie ein Ring aus Wildblumen auf einer Wiese. Es gab keine Predigten und keine christliche Trauerfeier, sondern ein paar sehr persönliche Grabreden. Danach ging jeder der über 80 Menschen zum Grab, um sich von Hermann zu verabschieden. Die Schale mit den Blütenblättern stand auf einem etwas wackeligen Gestell, und eine unserer Freundinnen ist aus Versehen gegen das Gestell gestoßen. Die Blüten fielen quer über das ganze Grab, und ich musste fast ein Lachen unterdrücken. Allen war klar, dass Hermann die Schale umgestoßen haben musste - als Zeichen dafür, dass ihm die Veranstaltung so langsam zu ernsthaft wurde. Wie in einem französischen Film halt, lieber Hermann!

Die Uni hat einen wunderbaren Nachruf veröffentlicht und eine sehr schöne Gedenkfeier veranstaltet, bei der es irische Musik und Currywurst gab. Ich war zwar nicht dort, weil es für mich zu schmerzlich gewesen wäre, aber ich weiß, dass es Hermann sehr gut gefallen hätte. Im Sommer soll es sogar noch ein weiteres Fest für Hermann geben.

Es gäbe noch so viel über Hermann zu sagen, aber dafür reicht ein Blogbeitrag nicht aus. Hermann liebte Krimis. Sabine und Hermann haben sogar drei Krimis selbst geschrieben.

Hermann und Sabine

Hermann und Sabine

Er mochte irischen Whiskey, Rotwein und natürlich Marzipan. Er malte ständig Comic-Figuren im Stil der MAD-Hefte, die er früher verschlungen hat. Er wäre beinahe Prediger geworden, hatte eine kaufmännische Lehre im Kaufhof absolviert, machte einen LKW-Führerschein, studierte ein paar Jahre Theologie, konnte Altgriechisch und Hebräisch, liebte Kabarett, das Mittelalter und Mediävistik, las Hermann Hesse, Harry Potter und Hägar-Comics, sah sich zur Entspannung die Sendung mit der Maus und Shaun das Schaf an, schrieb wissenschaftliche Aufsätze und Bücher, hörte irische Musik, liebte Rotwein und das Fotografieren.

Er engagierte sich für die Duisburger Tafel und hasste wie ich den Sommer, Hitze und schwüles Wetter. Er liebte alberne Figuren und den Krefelder Zoo. Er fuhr sehr gern und gut Auto. Wenn ihm ein Wagen entgegenkam und Hermann eindeutig Vorfahrt hatte, schimpfte er nicht und wurde wütend, sondern zündete sich in aller Ruhe ein Zigarillo an und wartete, bis der andere Fahrer schimpfend und mit hochrotem Kopf Platz machte. Hermann lebte diese Gelassenheit (oder versuchte es zumindest) und nahm Obrigkeiten nicht besonders ernst.

Einer seiner Lieblingssprüche von Hans Dieter Hüsch war auch sein Lebensmotto:

Wenn du bedenkst dass das Ganze nichts auf sich hat
Wirst du zum Spieler mit einem alles umfassenden Blatt
Verneigst dich in höfischer Weise vor allem was spricht und erklärt
Eine andere Haltung ist unsere Reise nicht wert

Hanns Dieter Hüsch: Ich sing für die Verrückten: Die poetischen Texte, Text III, S. 168

Und so könnte ich noch ewig weitermachen. Kleidervorschriften waren ihm egal. Er hielt Vorträge im Hawai-Hemd und trug dazu Gummi-Sandalen, in denen manchmal zur Dekoration eine Sonnenblume oder auch Darth Vader steckte.
Hermann eben.

 

Ich vermisse dich

Lieber Hermann,
ich vermisse dich schmerzlich. Wir beide haben immer solche große Angst vor Krankenhäusern gehabt, und ich ahne, wie groß deine Angst in deinen letzten Wochen war. Das Schlimmste ist für mich, dass ich mich nicht von dir verabschieden konnte. Ich war fast jeden Tag bei dir im Krankenhaus und werde nie dein stummes Weinen vergessen, wenn du mich gesehen oder meine Stimme gehört hast. Ich wünsche mir, dass ich irgendwann tagsüber und vor allem im Traum nicht mehr dein trauriges und gequältes Gesicht sehe, sondern immer öfter dein Lachen.

„Amüsieren wir uns, das Leben ist kurz“ hast du oft gesagt. Deines war viel zu kurz, und wir hatten noch so viel vor. Ich wollte, dass du dich noch mit (meiner Tochter) Bonny aussprichst und bin sicher, dass wir das noch geschafft hätten. Ich freue mich, dass du eine deiner Großnichten noch kennenlernen konntest und dass sie dir sogar ein Küsschen gegeben hat.  Du wolltest noch viel mehr für meinen Blog schreiben, wir wollten Food-Features mit Bild und evtl. Videos planen und ein Kochbuch veröffentlichen. Leider hatten wir beide keine Zeit dafür und es immer wieder verschoben.
Du hattest lange noch nicht die perfekte Kamera für dich gefunden, und ich wollte noch Stunden mit dir über Kameras sprechen und verschiedene Modelle mit dir ausprobieren.

Es wird mir keinen Spaß mehr machen, das neueste iPhone-Modell zu besitzen ohne den Wettstreit mit dir, wer es als erster bekommt.
Foto-Shootings fallen mir immer noch schwer, weil ich mit dir nicht über meine Ideen reden und dir die Bilder nicht mehr zeigen kann. Ich werde mir von nun an immer vorstellen, was du zu den Bildern sagen würdest.

Ich vermisse unsere tollen Gespräche. Wenn wir uns unterhalten haben, kam so schnell niemand dazwischen. Wir sind einander ins Wort gefallen und haben die Sätze des jeweils Anderen beendet. Ein Uni-Kollege hat einmal gesagt „Die Cölfens sind offensiv kommunikativ“. Recht hat er gehabt. So wie mit dir kann ich mit niemandem sprechen.

Ich bin nicht nur traurig. Ich habe das Gefühl, ein wichtiger Teil von mir wurde mir einfach weggenommen. Trotz all der Trauer bin ich aber sehr glücklich, dich so gut gekannt zu haben.

Ich werde dich nie vergessen.

Niemals geht man so ganz
irgendwas von mir bleibt hier
es hat seinen Platz immer bei dir.

Nie verlässt man sich ganz
irgendwas von dir geht mit
es hat seinen Platz immer bei mir.
(Trude Herr)

 

Zurück
Zurück

Podcast-Interview mit mir

Weiter
Weiter

“Mythos“ Familien-Spritzgebäck: Plätzchen mit mehr Tradition, als ich dachte